(De)Konstruktion des Andersseins als inhärenter Bestandteil erzählerischer Bildsprache

Sonntag, 02.06.2024
11:00 Uhr
Ort: Kollegienhaus, KH 1.013

Website der Gesellschaft für Comicforschung

mit Salon-Ticket Eintritt frei!

Vortrag von Thomas Sähn (Paris)

Sobald es in einer Erzählung zu einer Interaktion von Figuren kommt, werden den Lesenden auch mindestens zwei Perspektiven angeboten. Wenn der „Betrug“ des Einen immer auch das „Betrogensein“ des Anderen ist, wie Roland Barthes bereits anmerkte, und der Held aus der Sicht des Gegenspielers selbst einen Gegenspieler darstellt, sind dann nicht auch von der Erzählung transportierte Werte wie das „Eigene“ und das „Fremde“, das „Prestigelo-se“ oder das „Prestigeträchtige“ nur eine Frage der Perspektive? Anhand eines Korpus, das 419 Figuren aus den erfolgreichsten Comics nach 1945 aus Frankreich/Belgien, der DDR und der Côte d’Ivoire umfasst, soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass jede Comicfigur als ein komplexes Zeichen beschrieben werden kann, das sich in verschiedene Einheiten zerlegen lässt, die die Unterscheidung und somit die Identifizierung einer jeden Figur ermöglichen. So verschieden uns die Figuren unterschiedlicher Comics erscheinen mögen, so zeigt dennoch eine quantitative Untersuchung der Merkmale, über die sich die Figuren innerhalb eines Comics voneinander unterscheiden, dass die Bildsprache des Comics (proto)typische Unterscheidungsmerkmale stabilisiert hat, die innerhalb eines bestimmten geografi-schen/zeitlichen Kontext oder teilweise sogar kontextübergreifend für die Darstellung von Figurenidentitäten (z. B. „Spezies“, „Kapital“, „Geschlecht“, „Herkunft“, „Alter“ etc.) genutzt werden. Indem im Comic menschliche und ver-/entmenschlichte Figuren nicht nur dargestellt werden, sondern diese auch in einen Erzähldiskurs integriert sind, werden diese – und mit ihnen die von ihnen aktualisierten Identitäten – durch die jeweiligen Erzählrollen, die Interaktion mit den anderen Figuren und die Stimme der Erzählinstanz beständig auf- und abgewertet. Dank des kontextübergreifenden Korpus kann abschließend gezeigt werden, welchen Figurenidentitäten im populären Comic das höchste/niedrigste Prestige zugeordnet wird, welche geographischen Abweichungen auftreten können und inwiefern die Figurenstrukturen der klassischen Helden um Tintin, Lucky Luke oder Spirou und ihre jeweiligen Gegenspieler tatsächlich im zeitgenössischen populären Comic aufgebrochen wurden.

Moderation: Clemens Heydenreich

Präsentiert von der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor e. V.)